Einblicke 02/2020

«Als Rettungssanitäter half ich vielen Menschen – nun bin ich es, der Hilfe benötigt.»

Portrait

Max Grieder

Max Grieder schaut auf ein aufregendes Leben zurück. Kurz nach der vorzeitigen Pensionierung liess ihn eine Makuladegeneration auf dem linken, später auch auf dem rechten Auge fast erblinden und veränderte seinen Alltag stark. Doch der mit vielen Talenten gesegnete Rentner behält seinen Lebensmut und meistert den Haushalt selbstständig. Seine grosse und starke Familie und die gute Nachbarschaft sind sein tragendes soziales Netzwerk.

Der zweite Weltkrieg war ausgebrochen, als bei der Generalmobilmachung auch der Vater von Max einberufen wurde. Drei Jahre nach Kriegsbeginn musste der damals 8-jährige Knabe schon viel Verantwortung übernehmen; im Stall melkte er die Kühe und auch sonst packte er an allen Ecken und Enden mit an. Auf dem Hof in Rünenberg waren Soldaten stationiert, die abends in der Stube die Nachrichten mithörten. Beim Eindunkeln wurden Lampen mit Luftschutzbirnen verwendet, die das Licht so verdunkelten, dass das Dorf aus der Luft wie unsichtbar erschien.

Mit diesen eindrücklichen Worten erzählt der heute 87-jährige Max Grieder aus seiner Zeit als junger Knabe. Oder er berichtet, wie eines Nachts ein Autocar voller junger Italienerinnen ins Dorf einfuhr, die auf der Suche nach Arbeit waren. Die fanden sie dann auch in der Schuhfabrik, in der auch Max Grieder wegen Geldknappheit in sehr jungem Alter während zwei Jahren arbeiten musste.

Vom Schriftenmaler zum Rettungssanitäter

Bei der Karosserie Frech absolvierte der junge Mann später eine Lehre als Auto- und Schriftenmaler. Der Beruf gefiel ihm gut und durch Anstellungen bei zwei anderen Karosserien erwarb er sich weitere Berufserfahrung. Rasch zeichnete er sich durch besonders exaktes Arbeiten aus. So erstaunte es wenig, dass er bei der Agence Américaine Automobiles angestellt wurde. Dank dem guten Draht, den Max zu den Arbeitern hatte, schlug ihn die Direktion zum Sprecher der Arbeiterschaft vor. Diese Aufgabe übte er mit viel Fingerspitzengefühl aus. Für seine präzisen Automalerarbeiten erhielt er nicht selten von zufriedenen Besitzern amerikanischer Autos ein grosszügiges Trinkgeld. Aber es kam der Tag, an dem er dem Direktor sein Kündigungsschreiben überreichte. Wieso er denn wegwolle? Er sei ein unverzichtbarer Arbeiter geworden.

Aber Max suchte die Veränderung; er wollte seinen beruflichen Traum wahr werden lassen und als Rettungssanitäter im Einsatz stehen. Beim Spital in Liestal fand er eine Anstellung und absolvierte eine interne Ausbildung, die dem Profil des heutigen Rettungssanitäters schon einigermassen nahekam. Max Grieder fand jedoch, dass es für diesen wichtigen Beruf einen eigenen Berufsverband brauchte. So gründete er mit einigen Weggefährten zusammen den Schweizerischen Rettungssanitäter Verband.
 

‹Gspüriger› Menschenfreund

«Rettungssanitäter zu sein, war immer mein Traum. Ich habe mich mental auf verschiedene Situationen eingestellt, bevor ich sie dann effektiv erlebt habe. Dies hat mir geholfen, stark zu bleiben und verletzten Menschen während der Fahrt ins Spital eine Stütze zu sein», erzählt Max Grieder von seinen Erfahrungen. Als Rettungssanitäter hat er viele sehr schwierige Momente miterlebt. Auf der anderen Seite der Medaille wiegen zahlreiche schöne Erlebnisse die dunklen Stunden mehr als auf: So war er bei einer Geburt ebenso dabei wie bei vielen Transport-Fahrten, bei denen er mit viel Gespür und Menschlichkeit Schwerverletzten Mut zusprach.

Ein Rückenleiden zwang den Rettungssanitäter im Alter von 60 Jahren, sich vorzeitig pensionieren zu lassen. Eine IV-Rente wollte er hingegen nicht beantragen. «Ich habe damit vermieden, dass mich jemand im Garten arbeiten sieht und als Simulanten hinstellen kann.» Der Rücken konnte später operiert werden, was seine Beweglichkeit wiederum erhöhte. Deshalb machten ihm die gemeinsamen Reisen mit seiner Ehefrau noch mehr Spass.

Besonders den Ort Pertisau am Achensee besuchte das Ehepaar Grieder mehrere Male. Eine Begebenheit hat sich bei Max tief eingeprägt: «Wir waren wieder einmal in Pertisau und abends lud ein Restaurant zum Tanze. Als wir eintrafen war das Lokal bereits voll. Zum Glück winkte uns ein deutsches Pärchen heran, da bei ihnen noch zwei Plätze frei waren. Rasch fiel mir auf, dass die deutsche Frau etwas zappelig am Tisch sass. Doch es brauchte noch einen Schubs von meiner Frau, die mich ermunterte, diese Frau zum Tanze aufzufordern – was ich als leidenschaftlicher Tänzer dann auch tat. Das Resultat waren zwei schier unfassbare Tänze, erst ein Walzer, dann ein Tango. «Dass eine Tanzpartnerin den Kommandos derart spielerisch folgt, war einzigartig für mich. Und als sie beim Tanz mehrmals den Spagat nach oben ausführte, staunte ich sehr. Erst später habe ich dann erfahren, dass ich die deutsche Ballettmeisterin zum Tanze aufgefordert hatte», schmunzelt Max Grieder in Erinnerungen schwelgend.

Als die Sehprobleme begannen

Vor 24 Jahren stellt der Frührentner auf seinem linken Auge plötzlich eine starke Trübung fest. Sogleich lässt er sich vom Augenarzt untersuchen, der ihn notfallmässig an eine Augenklinik verweist. Festgestellt wird eine trockene Degeneration der Makula. Sechs Jahre später (2002) fällt das linke Auge dann unter die Limite fürs Autofahren. Da er rechts aber noch gut sieht kann er den Sehverlust etwas kompensieren. Im Jahr 2008 stirbt seine Frau kurz vor der goldenen Hochzeit – sie hatte die letzten Jahre mit der Parkinson-Krankheit zu kämpfen. Für den sehbehinderten Rentner ist der Verlust seiner Lebenspartnerin sehr hart. Max Grieder: «Ich habe meiner Frau sehr viel zu verdanken. Oft rief sie mich – wenn ich im Garten arbeitete – gegen Mittag ins Haus, damit ich mit ihr zusammen das Kochen erlernen konnte. Das hilft mir heute enorm.» Max ist ein Allrounder, der den Haushalt immer noch selber in Ordnung hält.

Nachdem 2015 auch am rechten Auge eine Makuladegeneration festgestellt wird, diesmal eine feuchte, verschlechtert sich das Sehvermögen dramatisch. 2017 tritt ein weiterer Schicksalsschlag ein: seine spätere Freundin, die ihn auf weiteren Reisen begleitet hat, stirbt nach schwerer Krankheit. Erneut ist der ältere Mann allein. Und Anfang/Mitte 2019 ist auch beim rechten Auge nur noch eine Sehleistung von 10 % messbar während sie beim linken Auge bloss noch 2 % beträgt.

Gezielte Hilfe für Sehbehinderte und Blinde

Die zunehmenden Sehprobleme ihres Patienten veranlassen seine Ärztin, ihn an die Sehbehindertenhilfe Basel zu verweisen. Die Low Vision Fachfrau empfiehlt ihm ein Bildschirmlesegerät, das er testen darf; er ist begeistert davon. Sofort schafft sich der sehbehinderte Mann dieses Gerät an, dank welchem er weiterhin die persönliche Post sowie Zeitungen, Magazine und Bücher lesen kann. Dank der starken Vergrösserung verliert er die Lesemöglichkeit nicht ganz. Eine sprechende Uhr gibt ihm die Uhrzeit an, wenn er diese abruft, Schreibhilfen machen das Erstellen kurzer Texte möglich und der Victor Reader erzählt ihm Hörbücher.

Max Grieder: «Nicht nur die Hilfsmittel sind für mich hilfreich, vor allem die Menschen sind es. Immer werde ich in Basel freundlich empfangen und es liegt mir viel daran, dem Team der Sehbehindertenhilfe Basel herzlich für ihre bisherige Unterstützung zu danken.»

Drei schwere Stürze bewogen den Rentner, ein Orientierungs- und Mobilitätstraining mit dem weissen Langstock in Anspruch zu nehmen. Die Handhabung des Stockes hat ihm Marcel Studer, unser Mobilitätslehrer beigebracht. «Mit dem weissen Langstock wird man auf der Strasse sofort als sehbehinderte Person wahrgenommen. Autofahrer halten jetzt schon an, bevor ich beim Zebrastreifen eingetroffen bin, um mich die Strasse überqueren zu lassen. Das ist enorm hilfreich», schildert er seine Erfahrungen.

Dennoch hat Max Grieder noch Wünsche an seinen Bekanntenkreis. Er meint, es wäre sehr hilfreich, wenn sich Bekannte kurz mit Namen vorstellen, wenn sie ihm begegnen. Bei seinem geringen Sehvermögen passiert es nämlich immer öfter, dass er auch bekannte Personen nicht erkennt – schon gar nicht, wenn die Gesichter auch noch von einer Schutzmaske verdeckt sind.
 

Engagiert und vielseitig

Max Grieder hatte zwei seiner Talente durch fleissiges Üben so weit verfeinert, dass er im In- und Ausland für öffentliche Auftritte gebucht wurde. In der einen Rolle trat er als Tango-Max auf; dabei tanzte er mit einer lebensgrossen Puppe Tango und erheiterte viele Menschen.
Die zweite Rolle, in die er hineinschlüpfte, war Charlie Chaplin. Er wuchs mit den Jahren immer mehr in diese Rolle hinein und wagte sich sogar an die Rollschuh-Nummer. Der Applaus war ihm gewiss.
In der Gemeinde bekleidete er verschiedene Ämter und in seiner Freizeit erteilte er während 30 Jahren Gymnastik-Unterricht in Bad Ramsach. Heute macht er zu Hause Gymnastikübungen, damit sein immer noch drahtiger Körper nicht einrostet. Früher war er ein hervorragender Sportschütze und mit dem Rennrad befuhr er sämtliche Schweizer Alpenpässe. Heute beschäftigt sich der Rentner vorwiegend mit Gartenarbeit (wo er fast blind Hecken und Sträucher schneidet) und unternimmt Tagesausflüge mit Zug oder Autocar – vorwiegend ins Tessin.

Als Dorfpoet bekannt, verfasst er immer noch Gedichte. Zu unserer Freude hat er auch der Sehbehindertenhilfe Basel einen seiner Reime gewidmet, den wir sehr gerne nach dem Interview mit Marcel Studer publizieren.

Max Grieder war mit vielen Talenten gesegnet: Tanzen, Schiessen, Dichten, Singen, Mundharmonika spielen oder auf Menschen eingehen wie kaum ein anderer. Kein Wunder also, dass das Familienoberhaupt – regelmässig umringt von 25 Kindern, Enkeln und Urgrosskindern – auch in der Familie allseits geschätzt wird. Und auch zu seiner Nachbarschaft pflegt der lebensfrohe Rentner einen sehr guten Kontakt.

Es sind nebst den schwierigen Momenten viele freudige Ereignisse, auf die der 87-jährige zurückblicken darf. Max Grieder: «Zufriedenheit ist eines jeden Menschen Glück. Sie gibt ihm jederzeit die Lebensfreud zurück.» Dieses Zitat von ihm zeigt, dass der im Geist so jung gebliebene Rentner den Humor und seine eigene Zufriedenheit nicht verloren hat.

Interview

«Für Betroffene ist die Hürde gross, sich in der Öffentlichkeit mit einem weissen Stock zu zeigen.»

Marcel Studer ist Orientierungs- und Mobilitätstrainer bei der Sehbehindertenhilfe Basel. Er trainiert Betroffene in der Anwendung des weissen Langstockes und vermittelt ihnen das nötige Rüstzeug, damit sie sich auf ihren Wegen sicherer fortbewegen können.

Marcel, kann man sagen, der weisse Langstock sei eine Art verlängerter Arm?
Wenn man es metaphorisch ausdrücken will, könnte man dies so sagen. Der weisse Stock bedeutet in jedem Fall mehr Sicherheit. Und Sicherheit führt zu mehr Selbstständigkeit bei den Betroffenen. Selbstständige wiederum benötigen weniger Begleitung, sie sind unabhängiger. So haben sie beispielsweise die Möglichkeit, sich mit der Begleitperson auf halber Strecke zu treffen und den ersten Teil des Weges selbst zu bewältigen.

Was können Blinde und stark Sehbehinderte mit dem weissen Stock ertasten?
Das Wichtigste sind Niveauunterschiede, z. B. Treppen oder Trottoirränder. Aber auch Hindernisse auf dem Gehsteig wie parkierte Autos, Reklametafeln, Pflanzentröge oder Tische/Stühle von Strassencafés sowie an der Hauswand abgestellte Velos sind für sehbehinderte Personen potenzielle Stolpersteine. Da ist es gut, dass sie nicht direkt an das Hindernis anstossen, sondern zuerst mit dem weissen Stock. Der Stock ist immer einen Schritt voraus und kollidiert so zuerst mit dem Hindernis, was sehbehinderte Personen vor Verletzungen schützt.

Die Sehkraft des Klienten Max Grieder hatte sich im 2019 stark verschlechtert und er ist einige Male gestürzt; deshalb meldete er sich bei uns für ein Orientierungs- und Mobilitätstraining. Wie konntest Du den Klienten konkret unterstützen?
Die erste Aufgabe ist es oft, einem Betroffenen aufzuzeigen, dass es jetzt notwendig ist, sich mit einem weissen Stock als sehbehinderter Mensch erkennen zu geben. Das ist immer die erste Hürde, die es zu nehmen gilt. Max Grieder war sehr offen für unsere Tipps, doch auch er hatte anfänglich etwas Mühe, sich als Sehbehinderter zu outen. Rascher als manch anderer sah er jedoch ein, dass er über diesen Schatten springen musste. Engagiert machte er beim Mobilitätstraining mit und realisierte schnell, welche Vorteile ihm der weisse Stock unterwegs bringt …

… du meinst zum Beispiel die Erkennbarkeit nach aussen – Achtung, da ist jemand mit einer Sehbehinderung unterwegs?
Ja, das ist einer der grossen Vorteile, die ein weisser Stock mit sich bringt. Die Erfahrung zeigt, dass Passanten in vielen Fällen einer Person mit dem weissen Stock ausweichen und Platz machen. Andere gehen dagegen auf die betroffene Person zu, um Hilfe anzubieten. Der weisse Stock erhöht die Aufmerksamkeit bei Passanten und macht Betroffene sicherer auf ihren Wegen.

Könntest Du schildern, wie sich ein stark sehbehinderter Mensch unterwegs orientiert?
Ein blinder oder fast blinder Mensch muss ganz viele markante Punkte auf seinem Weg memorisieren können. Nehmen wir das Beispiel einer Strassenüberquerung: der Betroffene weiss, dass er nach einem Hinweisschild, das er mit dem Stock tasten kann, rechts abbiegen muss und dass dort eine Trottoirabsenkung kommt. Danach folgt der Zebrastreifen für die Strassenüberquerung. Jetzt muss sich der Betroffene zur Strasse abdrehen, um mit dem Gehör den Verkehr einschätzen zu können. Manchmal übertönt eine Baustelle den Verkehrslärm, was die Aufgabe sehr erschwert.

Wenn der Betroffene realisiert, dass die Autos angehalten haben, überquert er die Strasse, geht in rechter Richtung weiter bis er nach der 2. Verkehrstafel und 5 weiteren Schritten links die Bäckerei erreicht. Dieses fiktive Beispiel soll veranschaulichen, wie viele markante Punkte sich eine blinde Person allein auf einer kurzen Strecke merken muss.
 

Fotos: Michael Fritschi

Ein Gedicht

Max Grieder für die Sehbehindertenhilfe Basel

Gsehsch mit dä Augä nüm so guet
so verlier nid grad dr Muet.

Gang zerscht zum Augearzt, das isch s'Beschtä
dä duet dini Augä duräteschtä.

Zeigt dr d'Untersuechig ä Chranket wie d'Makula
muesch Hilf und Unterstützig ha.

Nimms Telefon und telefonier
061 564 04 0vier.

Wär nimmt's ächt ab am anderä Änd vom Droht?
Es si fründlichi Fachlüt mit guetem Rot.

D'Sehbehindertehilf ä erfreulichi Sach
Alles unterem gliche Dach.

Do möchti klar und dütlich sägä
die hälfe euses schwerä Schicksal träge.

Hilfsartikel chamä probierä und chaufä
au wyssi Stöck zum Leitä bim Laufä.

Lauft amtlich öbbis nid uf dä richtige Bahnä
gosch am Beschtä au grad do anä.

Bloggti es Problem chöntsch es nid überwindä
versuchä si im Gspröch ä Lösig z'finde.

Verschiedeni Kürs und Zämekünft si im Angebot z'bsuechä
und eimol im Johr chamä gmeinsami Ferie buechä.

Was die Lüt leischtä vo dr Sehbehindertehilf Basel-Stadt
schtoht meischtens usfüehrlech gschribe i däm Blatt.

Drum meinti doch und wills betonä
ä Mitgliedschaft würd sich allzyt lohnä.