Einblicke 01/2020

«Ich bin zufrieden und dankbar für das Leben, das ich mit 85 noch führen kann.»

Portrait

Vreni Aeschlimann

Trotz einer Gehbehinderung infolge Osteoporose und einer im Alter eingetretenen Sehbehinderung (Makuladegeneration) verbringt Vreni Aeschlimann ihren Lebensabend in Würde und mit einer gesunden Einstellung. Gezielte Unterstützung durch ihre lieben Töchter, nette Nachbarn und die Sehbehindertenhilfe Basel erleichtern ihr das.

Vreni Aeschlimann kam in Basel zur Welt und ging auch hier zur Schule. Gleichenorts ging sie später den Bund der Ehe mit einem Genfer namens Aeschlimann ein. Aus der Beziehung erwuchsen zwei Töchter. Ihr Mann war Dienstchef beim Schweizer Zoll am Basler Flughafen wo er über 35 Jahre tätig war. Vorerst sprach alles für die klassische Rollenteilung: Der Mann arbeitet, die Frau bestellt den Haushalt und schaut zu den Kindern.

Die Literatur aus dem Büchergestell kann Vreni Aeschlimann infolge Sehverlust nicht mehr lesen. Das Hilfsmittel ‹Victor Reader› ermöglicht ihr dafür das Konsumieren von Hörbüchern.

Frau mit Ideen und Pioniergeist

Doch als die Töchter schon selbstständiger waren, wollte Vreni Aeschlimann etwas für die Gesellschaft tun. Ihr wacher Geist, ihre soziale Ader und ihre Neugierde brachten sie mit einer Frau in Kontakt, die einen Kindergarten für behinderte Kinder betrieb und mit dieser Aufgabe an die Grenzen zu kommen schien. Vreni Aeschlimann entschied spontan, der Frau unter die Arme zu greifen. Erst arbeitete sie freiwillig und ohne Lohn im Kindergarten mit. Später, als der Staat von diesem altruistischen Engagement erfuhr, wurde sie angestellt.
Im Kindergarten gab es ein Mädchen mit Down Syndrom; der Vater, ein amerikanischer Arzt, hatte den integrativen Ansatz der Montessori-Schulen im Kopf – ähnliches schwebte auch Vreni Aeschlimann vor. Zwei Geister trafen sich und schmiedeten neue Pläne.
 

Erster integrativer Kindergarten im umgebauten Kellerraum

So entstand im Kellerraum der Aeschlimanns der wohl erste integrative Kindergarten Basels. Er wurde eigens auf die Bedürfnisse von Kindern umgebaut. Es blieb nur kurz ein Kindergarten mit bloss einem Kind. Als Vreni Aeschlimann die Taxifahrerin ihrer Schülerin fragte, was das denn für eine Decke auf dem Rücksitz sei, erwiderte diese: «Das ist keine Decke, sondern meine dreijährige Tochter; ich bin alleinerziehend und kann das Kind nirgends unterbringen.» Sofort war klar, dass Vreni dieser Frau einen Kindergarten-Platz anbietet. Jetzt nahm der integrative Ansatz Konturen an. Bald waren es acht Kinder, die sie bei sich zuhause unterrichtete und spielen liess. Als der amerikanische Arzt später einen Koffer mit Montessori-Spielmaterial vorbeibrachte, war für Vreni Aeschlimann augenblicklich klar, dass sie die Montessori-Ausbildung absolvieren wollte.

Die Dinge entwickelten sich immer weiter, bis es in Basel drei Montessori-Kindergärten mit insgesamt 80 Kindern und 12 Angestellten gab. Das Personal bestand hauptsächlich aus pensionierten Kindergärtnerinnen, die so ihr Wissen einbringen und weiterhin sinnvoll aktiv bleiben konnten.

«Ich habe dem Staat die Kosten für 700 Kinder abgenommen.»

Zuerst anderen helfen, nun Hilfe in Anspruch nehmen

Ein halbes Leben hat sich die gesunde, sozial eingestellte Frau dafür eingesetzt, dass Kinder – so verschieden sie auch sind – ein gutes Fundament für ihren weiteren Bildungsweg erhalten. Die Tatkraft, der Pioniergeist und das aufopfernde Engagement über Jahrzehnte ist etwas, das unseren Respekt und unseren Dank verdient. Heute ist die 85-jährige Frau selbst gesundheitlich eingeschränkt. Ein Bein wurde wegen Osteoporose operiert und muss durch eine Schiene stabilisiert werden, damit sie sich wenigstens noch in der Wohnung vorwärtsbewegen kann. Vor gut einem Jahr verschlechterte sich das Sehvermögen dermassen, dass Vreni Aeschlimann nicht mehr Zeitung lesen konnte.
«Das war für mich ein tragischer Verlust. Ich lese für mein Leben gern. Ich konnte mir nicht vorstellen, was ich jetzt in dieser Zeit Sinnvolles tun soll, in der ich mich mit Lesen beschäftigt habe.»
 

Lesen nur mit Lupe

Lesen kann die ältere Frau nur noch mit einer elektronischen Lupe und nur kurze Texte, deren Schrift nicht zu klein sein darf. Ein Beipackzettel eines Medikamentes ist eine Herausforderung für sie. Seit 2016 war sie regelmässig in der Vista-Klinik, wo sie monatlich eine Augenspritze erhält; diese Spritzen sollen den Verlauf der feuchten Makuladegeneration hemmen.
Dank Kurzfilmen über das Angebot der Sehbehindertenhilfe Basel, die auf Telebasel ausgestrahlt wurden, fand sie 2019 den Weg zu uns. Sozialarbeiterin Regula Thöni klärte die neue Klientin darüber auf, welche Angebote es bei uns gibt und vermittelte ihr eine Low Vision Beratung bei unserer Fachfrau. Dort wurden zwei Lupen ausgewählt, mit denen sie noch die persönliche Post lesen kann. Als Vreni Aeschlimann der Sozialarbeiterin ihr Leid klagte, keine Bücher mehr lesen zu können, wies unsere Fachfrau sie auf den Service von Hörbüchern in der SBS-Bibliothek hin. Wir liehen ihr einen Victor Reader (ein Abspielgerät für Hörbuch-CDs) zum Testen aus, um zu schauen, ob sie mit dem Hilfsmittel zurechtkommt und ob sie es auch nutzt – bevor hohe Anschaffungskosten entstehen. Das Abspielgerät von Hörbüchern ermöglicht es den Nutzern, die Aufnahme zu stoppen und später genau dort weiterzuhören.

Vreni Aeschlimann ist begeistert, wieder mit der Welt und ihren Geschichten verbunden zu sein. Sie findet, dass dieses Hilfsmittel und das Angebot der Hörbücherei ihre Lebensqualität enorm erhöhen und ist sehr dankbar dafür, dass wir sie auf diese Möglichkeiten aufmerksam gemacht haben. Sie erklärt schelmisch: «Wissen Sie, der Victor ist wie ein Hausfreund. Wenn ich bequem auf dem Bett liege und auf ‹Play› drücke, erzählt er mir mit seiner schönen Stimme spannende Geschichten. Er stellt keine Ansprüche und wenn ich genug gehört habe, kann ich einfach auf ‹Stop› drücken und der Victor ist wieder still.»

Mobil dank KBB

Weil Vreni Aeschlimann mit ihrem zusammengeflickten Bein den öffentlichen Verkehr nicht mehr – oder höchstens mal in Begleitung – nutzen kann, ist sie auf den Taxi-Dienst angewiesen. Manchmal kann sie mit einer ihrer Töchter einkaufen gehen oder ein netter Nachbar fährt sie zu einem Termin. Aber allzu oft will sie deren Hilfe auch nicht beanspruchen. Deshalb erhielt sie von unserer Sozialarbeiterin tatkräftige Unterstützung beim etwas aufwändigen Anmeldeprozedere für die KBB. Nun ist sie Mitglied bei der ‹Koordinationsstelle Fahrten für mobilitätseingeschränkte Personen beider Basel›. Der KBB sind verschiedene Behindertentransportunternehmen oder Taxi-Ketten angeschlossen. Gegen Vorweisung ihres Ausweises und Übernahme eines Selbstkostenanteils fahren diese Taxis Vreni Aeschlimann an Zielorte im Kanton Basel-Stadt oder Baselland. 14 Fahrten monatlich oder bis zu 168 Fahrten im Jahr stehen ihr so zu.

Dank dieser Dienstleistung kann Vreni Aeschlimann weiterhin Freunde besuchen, einkaufen gehen oder einen Arzttermin wahrnehmen. Am liebsten aber lädt die engagierte Frau liebe Menschen zu sich nach Hause ein. Als sie kürzlich Nachbarn zu einem Apéro zu sich einlud – alle brachten etwas mit – boten sich ein 91-jähriger sowie ein 86-jähriger Nachbar, die nur 30 Meter voneinander entfernt wohnen, das Du an. Wer weiss, vielleicht können die beiden noch ein paar Jahre eine schöne Freundschaft pflegen. Und Vreni Aeschlimann ist es mit ihrer integrativen Ader wieder mal gelungen, Menschen zusammen zu bringen.
 

Brun malt das Persil-Grittli

Im Kindesalter stand unsere Klientin dem renommierten Plakat-Künstler Donald Brun Modell, und zwar für die legendären Persil-Plakate. Der Künstler, der 1928 einen Plakatwettbewerb der Stadt Basel für ein Bäderplakat gewann, schuf ab 1930 bis in die 70er Jahre Entwürfe, die Plakatgeschichte schrieben. Schon früh zeichneten sich seine Arbeiten durch einen feinsinnigen Humor aus. Vreni Aeschlimann musste für einen Plakatentwurf mehrere Stunden von Hand Wäsche waschen. Als Belohnung erhielt sie eine Tafel Schokolade. Das waren noch Zeiten ...

Interview

«Das Umfeld von Betroffenen weiss heute besser über uns Bescheid.»

Roland Peterli ist seit 19 Jahren Leiter der Beratungsstelle bei der Sehbehindertenhilfe Basel. Er wird von seinen Mitarbeitenden als Vorgesetzter und Kollege sehr geschätzt. Im Gespräch blicken wir etwas hinter die Kulissen der Beratungsstelle.

Roland, Du bist seit 2001 Leiter der Beratungsstelle und auch in Deinem Team gibt es wenig Fluktuation. Entsteht durch diese Kontinuität automatisch viel Erfahrung?
Das kann man sicher so ausdrücken. Weil es über einen längeren Zeitraum sehr wenige personelle Wechsel gab, konnten wir uns auf der Beratungsstelle einen hohen Erfahrungsschatz aufbauen. Die Mitarbeitenden sind kompetent und entwickeln sich stetig weiter. Dadurch haben wir eine hohe Qualität in der Beratung und in der Rehabilitation.

Die Sehbehindertenhilfe Basel informiert seit zwei Jahren mit der Kampagne ‹Sehverlust im Alter› darüber, dass Betroffene bei uns gezielte Hilfe erhalten. Was hat die Kampagne bisher bewirkt?
Die Öffentlichkeit ist besser informiert, was wir inhaltlich anbieten. Wenn uns Ärzte, Pflegepersonal oder Angehörige kontaktieren, stellen wir fest, dass sie bereits mehr Informationen über uns haben. Wenn früher am Telefon eine Situation geschildert wurde, die herausfordernd ist, so wird heute bereits danach gefragt, ob denn Lösung XY etwas für die betroffene Person sein könnte. Ausserdem ist der Kontakt mit einem Grossteil der Augenärzte enger geworden. Da sie uns jetzt besser kennen, raten sie Patienten öfter, sich bei uns Unterstützung zu holen.

Die Klientin Vreni Aeschlimann wurde dank der Ausstrahlung von Kurzfilmen über unser kostenloses Beratungsangebot im Regionalfernsehen auf uns aufmerksam. Sie war davon ausgegangen, unser Angebot sei nur für Blinde. Ein Einzelfall?
Ein Einzelfall ist es nicht gerade, ich habe diese Aussage auch schon gehört. Es ist positiv, dass wir in der Öffentlichkeit jetzt besser bekannt sind und dadurch solchen Missverständnissen unter Umständen vorbeugen können.

Sich einzugestehen, dass man Hilfe benötigt, ist für viele Betroffene ein Prozess der viel Zeit benötigt. Erst wenn der Leidensdruck gross genug ist und sie auch wissen, wohin sie sich mit ihrem Problem wenden können, melden sich sehbehinderte Menschen bei uns ...
... das ist der zentrale Punkt: Sich selbst einzugestehen, dass es ohne Hilfe von Fachpersonen nicht mehr geht. Deshalb ist es wichtig, dass Betroffene auch von ihrem Umfeld darauf hingewiesen werden, dass sie sich diese Unterstützung holen sollen. Wenn sie den Schritt zu uns gemacht haben, klären wir im Erstgespräch über die Möglichkeiten auf, die es gibt. Wenn einer neuen Klientin, einem neuen Klienten klar wird, dass da jemand gegenübersitzt, der ihre persönliche Situation versteht, dann ist auch der Widerstand, sich helfen zu lassen, rasch weg.

Auf unserer Beratungsstelle finden Betroffene ein umfassendes Angebot. Wieviele Klienten betreuen wir jährlich?
Weit über 1000 Klientinnen und Klienten im Jahr ...

... 1000 Menschen und auf jede dieser Personen gehen wir individuell ein und suchen gemeinsam nach passenden Lösungen.
Genau. Wir zeigen auf, welche Hilfsmittel es gibt, welche Dienstleistungen sie beanspruchen können (Fachstellen, Ämter, freiwillige Helfer, das soziale Umfeld usw.) und was mit Rehabilitationsmassnahmen erreicht werden kann.

Manchmal braucht es nur wenig und die Lebensqualität ist wieder zurück. Bei unserer portraitierten Klientin war es der Verlust des Lesens, der dank des Hörbuchangebotes wieder wettgemacht werden konnte ...
... andere sind glücklich mit einer sprechenden Uhr, die ihnen hilft, den Tag zu strukturieren oder sie können mit einer Gittertafel wieder Briefe schreiben. Und es gibt Klientinnen und Klienten, die dank IT-Unterstützung wieder per E-Mail korrespondieren können, oder die mit dem ‹Weissen Stock› wieder mobiler sind. Entscheidend ist, dass Betroffene die Selbstständigkeit erhalten oder zurückgewinnen können und trotz Sehverlust die Lebensfreude behalten.
 

Fotos: Michael Fritschi