Einblicke 6/2014

«Mir wurde ein zweites Leben als Blinde geschenkt.»

Portrait

Esther Barretta-Weinhard

Esther Barretta-Weinhard erlitt Mitte der Neunziger Jahre eine schwere virale Erkrankung, die sie zu einem längeren Spitalaufenthalt zwang. Eine rasch fortschreitende Netzhautablösung führte trotz mehrerer Augenoperationen innert drei Monaten zur Erblindung der damals 35jährigen Frau. Dank eines guten Umfeldes, ihres Glaubens und Willens sowie der zielgerichteten Hilfe der Sehbehindertenhilfe meistert Esther Barretta ihren Alltag als blinde Frau – so gut es eben geht.

«Ich möchte den Haushalt selber machen.»

Esther Barretta arbeitete noch in der Uhrenfirma und im Geschäft ihres Mannes, als sie 1996 eine virale Erkrankung erlitt. In der Folge kam es zu einer Netzhautablösung, d. h. die inneren Anteile der Netzhaut (Neuroretina) lösten sich ab; auch mehrere Operationen an den Augen konnten die totale Erblindung nicht aufhalten, da auch noch der Sehnerv betroffen war. Nach etwa drei Monaten sah sie nichts mehr. Eine dramatische Wende im Leben von Esther Barretta.
 

Kleine Schritte zurück ins Leben

Der Schock sass tief und es dauerte eine Weile, bis die junge Frau wieder auf die Beine kam. Ein Jahr nach ihrem Sehverlust wurde Esther Barretta Klientin der Sehbehindertenhilfe Basel. Hier holte sie sich die nötige Unterstützung für die Bewältigung ihres Lebens als ‹Blinde›. Sie äusserte gegenüber der Sozialarbeiterin den Wunsch, ihren Haushalt wieder selber in Schuss zu halten. Als langjährige Klientin kam sie seither mit fast allen Rehabilitations-Fachleuten in Kontakt: «Alle Trainerinnen und Trainer sind super», lobt sie. Sie erinnert sich sogar an den Erstkontakt, als Wolfgang Birekofen sie fragte: «Wissen Sie, wer behindert ist, wenn sich eine Blinde und ein Sehender treffen? Der Sehende. Er weiss nicht, wie er mit der Blinden umgehen soll.»

Mit guten Tipps und lernpraktischen Hinweisen vermittelte der Trainer der neuen Klientin viel Hilfreiches; Esther Barretta wurde beim Hantieren in der Küche rasch sicherer. Auch wenn das Leben ausserhalb der eigenen vier Wände zu meistern für die erblindete Frau nicht so einfach ist: das Kochen geht der gelernten ‹Fachangestellten Hauswirtschaft› gut von der Hand. Im Sommer bereitet sie gerne verschiedene Salate zu. Als Zutaten verwendet sie einfach zu verarbeitende Rohstoffe. Heute kommt ihre Freundin Sandra Zahn zu Besuch und die 52jährige kocht ein thailändisches Menu mit Gemüse und Pouletfleisch an einer Curry-Kokos-Sauce.

Um die Übersicht beim Kochen zu behalten, räumt Esther Barretta alles nach Gebrauch gleich wieder weg.

Grenzen anerkennen

Es gibt zum Glück Hilfsmittel, die die Selbstständigkeit von Blinden und Sehbehinderten erhöhen. Ohne das Farberkennungsgerät hätte Esther Barretta Mühe, sich eine passende Garderobe aus dem Schrank zu fischen. In manchen Lebenssituationen braucht es die Hilfe von sehenden Menschen aus ihrem Umfeld. Familie, Freunde und Nachbarn helfen ihr beim Einkauf von Lebensmitteln und Kleidern, beim Frühjahresputz, im Post- und Schriftverkehr, im Online-Banking oder bei technischen und handwerklichen Arbeiten.
Und wenn sie krank ist, geht jemand aus ihrem Umfeld mit dem Hund spazieren. Nach einigen Jahren des Lebens als Blinde, geriet die Frau in eine Lebens- und Sinnkrise. Alles wurde schwer, sie war in einem Loch. Die Therapiegespräche mit dem Psychologen sowie ihr Glauben halfen ihr aber allmählich wieder in die Spur.

Selbstständig zu sein, sei für alle blinden Menschen wichtig, meint die Klientin, doch man müsse sich auch eingestehen können, wenn es ohne Hilfe nicht mehr geht. «Wenn es zu viel Energie benötigt, etwas selber zu meistern, hat es keinen Sinn, sonst wird man zu verbissen.»
 

Das Leben neu erlernen

Als blinde Frau musste Esther Barretta-Weinhard lernen, ihren Alltag wieder zu bewältigen. Ihr liebevoller Ehemann wollte immer für sie da sein, doch im 2010 erlag er innert weniger Monate einem Krebsleiden. In den letzten gemeinsamen Monaten mussten sie beide lernen, loszulassen. Sein Tod hinterliess eine grosse Lücke und die blinde Frau war jetzt noch mehr auf sich gestellt. «Wenn es mir nicht gut geht, kommt der ganze Rattenschwanz an Schwierigem, das ich erlebt habe und schlägt mir um die Ohren.» Doch die Erfahrung lehrte sie, dass dies wieder vorbei geht. Sie spricht dann mit einem lieben Menschen aus ihrem Umfeld, realisiert, dass sie ja nicht alleine ist, und spürt dann wieder Dankbarkeit für alles Gute in ihrem Leben.

Ihre Eltern leben noch, zudem pflegt sie einen guten Freundeskreis und mag es, mit Freunden essen zu gehen. «Als ich nur mit dem weissen Stock unterwegs war, kam es oft vor, dass mich fremde Menschen ohne Vorwarnung einfach anfassten. Damit konnte ich nicht gut umgehen. Es war mir zu viel, zu nah.» Mit Ayk als Führhund, passiert dies nicht mehr. Der Bergamasker ist nicht nur ein Begleiter von A nach B, er ist ein Gefährte, dem sie ‹blind› vertrauen kann.

Ordnung im Haushalt ist das A und O für blinde Menschen: Die Klientin hier beim Wäsche zusammenlegen.

Hintergrund

Das Leben bewältigen

Im Haushalt gibt es einfache Massnahmen, die den Alltag erleichtern:
Markierungspunkte am Kochherd oder ein ausgeklügeltes Ordnungs-System in den Schränken sind Beispiele dafür. Die Kleider sind nach Farben sortiert oder in passenden Kombinationen aufgehängt; die schmutzige Wäsche sammelt die Klientin in unterschiedlichen Plastik-Säcken. Nachdem sie das Kochen wieder erlernt hatte, brachte ihr Marcel Studer das sichere Orientieren mit dem weissen Stock bei und Doris Wahl vermittelte ihr weitere ‹lebenspraktische Fähigkeiten›.

Peter Schultze unterstützt sie in Sachen PC- und Handy-Kommunikation. So erlernte sie, als ‹Blinde› Informationen zu verarbeiten und mit der Aussenwelt zu kommunizieren. Esther Barretta nimmt an den Blindenführungen in der Fondation Beyeler teil und macht mit beim Blumensteck-Kurs der Sehbehindertenhilfe. Sie mag Hörbücher und verfolgt viele Radiosendungen, die sie sich als Podcasts abonniert. Sie hört Hintergrund-Berichte, Wortsendungen, wissenschaftliche Beiträge, Politik und Kulturelles.