Einblicke 01/2019

«Dass die Leute mir meine Sehbehinderung nicht ansehen, ist ein zusätzliches Handicap.»

Portrait

Sonja Holdener

Wenn Sonja Holdener einen Bekannten nicht erkennt, der sie am Bahnhof grüsst und wenn Mitmenschen im Coop nicht realisieren, dass die Frau, die den Halbrahm so nahe an die Augen hält, sehbehindert ist, dann führt dies im Alltag zu Missverständnissen. Sonja Holdener bereinigt diese Situationen meist im Gespräch, sieht sich aber auch vielen Vorurteilen gegenüber.

Sonja Holdener nimmt die Welt mit ihrer altersbedingten Makuladegeneration (AMD) nur verschwommen wahr. Unterwegs erkennt sie Menschen, die ihr begegnen erst im letzten Moment – oder gar nicht. Zum Glück sprechen sie viele an oder nennen ihren Namen. Obschon die Rentnerin sehbehindert ist, realisieren Aussenstehende dies oft nicht: Sonja Holdener trägt nämlich keinen weissen Stock als sichtbares Erkennungszeichen ihrer Sehbehinderung mit sich. Natürlich weiss sie, dass ein weisser Stock einiges vereinfachen, Missverständnissen vorbeugen und ihre Sicherheit auf der Strasse erhöhen würde. Doch da sie mit dem Rollator unterwegs ist, kann sie nicht noch einen weissen Stock handhaben. Ausserdem möchte sie nicht, dass alle im Dorf sogleich sehen, dass sie sehbehindert ist. Umso mehr muss sie sich dafür im Alltag erklären, was nicht immer so einfach ist.

Grauer Star und AMD

Die heute 83-jährige Frau musste vor neun Jahren den grauen Star operieren lassen. In einer späteren Verlaufskontrolle wurde eine trockene altersbedingte Makuladegeneration (AMD) festgestellt. Das bedeutet, dass man nichts tun kann.  

Eine Rückenoperation vor anderthalb Jahren hat die Rentnerin zusätzlich eingeschränkt. Zuvor war sie mit ihrem Gehstock noch fleissig unterwegs. Sie fuhr nach Basel oder Laufen zum Einkaufen, besuchte ihre Töchter in Reinach oder ihren Sohn in Biel-Benken. Zurzeit beschränkt sich ihr Ausgangsradius auf Grellingen. Nun sind es ihre Kinder die die Distanz überbrücken und sie in ihrer schönen Alterswohnung besuchen. Ihre älteste Tochter Katharina begleitet sie seit ihrem ersten Besuch bei der Sehbehindertenhilfe in Basel. Tochter Sonja fährt sie mit dem Auto an jeden auswärtigen Termin. Sohn Markus hilft ihr wo es ihn braucht und vom Schwiegersohn erhält sie – über die Unterstützung von der Sehbehindertenhilfe hinaus – Hilfe beim Computer und beim iPad.

Den Alltag vereinfachen

Rückblende: Das Haus am Hang samt Garten zu bestellen wird für die Rentnerin zunehmend zur Last. Sie wäre jetzt bereit, dies alles loszulassen und in einer altersgerechten Wohnung neu anzufangen. Mit ihrer Tochter am Einkaufen, begegnet ihr Ende Mai 2018 die Frau, die für die Vermietung der Alterswohnungen im Dorf zuständig ist. Ihre Tochter fragt spontan, ob denn bald eine Wohnung frei werden könnte. «Sie haben Glück, gerade heute ist eine Kündigung ins Haus geflattert; sie können diese Wohnung übernehmen».

Die Wohnung ist für die Rentnerin eine Fügung zur richtigen Zeit. Alles ist auf einer Etage, es hat breite Türen und viel Licht. Hier findet Sonja Holdener ihr neues Heim, das ihr Geborgenheit bietet. Sie ist von hier rasch am Bahnhof und das Einkaufen fällt leichter, auch wenn sie im Coop dennoch jedes Mal auf Hilfe angewiesen ist. «Weil ich nicht sehe, welche Taste zum ‹Kohl› und welche zu den ‹Äpfeln› gehört, frage ich die Verkäuferin an der Kasse, ob sie so lieb wäre, mir den Kohl zu wiegen. Mittlerweile wissen die Verkäuferinnen, dass ich mit dem Erkennen und Sehen Mühe habe».

Vergrösserungsbedarf beim Lesen

Anfang 2016 kommt die sehbehinderte Frau zur Sehbehindertenhilfe in eine Beratung. Rasch wird klar, dass sie für das Lesen Unterstützung braucht. Zuerst vermittelt ihr die Rehabilitationsfachfrau Doris Wahl das Arbeiten am Computer mittels Zoomtext, einem Vergrösserungsprogramm. Doch die sehbehinderte Frau empfindet mit ihrem zunehmenden Sehschwund den Bildschirm als zu weit weg liegend. Ein Optiker, mit dem die Beratungsstelle oft zusammenarbeitet, klärt ab, welches Hilfsmittel Frau Holdener dienen könnte. Mit der anfänglich empfohlenen Lupenbrille hat die Rentnerin Probleme in der Handhabung und mit der richtigen Distanz. Deshalb wird ein grosses Bildschirmlesegerät angeschafft.

Sonja Holdener kombiniert das Bildschirmlesegerät zusätzlich mit einem grossen iPad. Sie hat dort eine Bibliothek mit Hörbüchern angelegt. In der App ‹SBS Leser plus› wählt sie mit einem Stift das Hörbuch aus, das sie am Hören ist. Oder sie beginnt eine neue Geschichte. «Am liebsten höre ich historische Romane. In eine andere Zeit abzutauchen ist spannend und der Sehverlust tritt völlig in den Hintergrund».

«Am liebsten höre ich historische Romane. In eine andere Zeit abzutauchen ist spannend und der Sehverlust tritt völlig in den Hintergrund».

Mit dem iPad verschickt die Rentnerin Nachrichten (SMS), z. B. an ihre Kinder. So oder so ist Sonja Holdener nicht jemand, der Vergangenem nachtrauert. Sie lebt ganz in der Gegenwart und trägt demütig ihr Schicksal der schlechter gewordenen Augen. Sie gehört zu jenen Menschen, die sich an dem erfreuen, was ihnen bleibt. Und das ist auch ohne die volle Sehkraft noch immer eine ganze Menge.

Hintergrund

Elektronisch vergrössernde Sehhilfen

Elektronisch vergrössernde Sehhilfen sind Hilfsmittel für Menschen mit einer Sehbehinderung. Ein Bildschirmlesegerät zum Beispiel vergrössert mit der eingebauten Kamera Dokumente individuell so stark wie es notwendig ist. Sehbehinderte können so wieder Zeitung und ihre persönliche Post lesen oder Fotos anschauen. Auch die einstellbaren Lesefarben, z. B. gelber Text auf schwarzem Hintergrund, können das Lesen wesentlich erleichtern.

Das Bildschirmlesegerät ist eine stationäre Lesehilfe und wird überwiegend an einem festen Standort genutzt. Diese Geräte verfügen meist über einen integrierten, beweglichen Lesetisch, der unterhalb der Kamera angebracht ist. So können von einer Sehbehinderung betroffene Menschen ihre Texte positionieren, um einfacher die Zeitung zu lesen oder einen Brief zu schreiben.
 

Kostenübernahme im AHV-Alter

Viele Sehbehinderungen treten erst im Alter auf. Wenn eine sehbehinderte Person ein Bildschirmlesegerät möchte, um damit weiterhin lesen zu können, muss sie einen grossen Teil an das Gerät selber bezahlen. Die Ausgleichskasse übernimmt nach Prüfung des Antrages einen Betrag von 2'048 Franken an eine Lupenbrille oder an ein Bildschirmlesegerät. Den Restbetrag übernimmt die sehbehinderte Person selbst. Die Sehbehindertenhilfe unterstützt Betroffene beim Beantragen solcher Hilfsmittel. Im Falle finanzieller Knappheit kann unsere Organisation ein Gerät zum Testen ausleihen oder sogar einen Teilbetrag aus dem Hilfsmittelfonds an das Gerät beisteuern.
 

Kombination iPad – Bildschirmlesegerät

Sonja Holdener wendet zum iPad zusätzlich das Bildschirmlesegerät an. So kann sie auf ihrem iPad den Text in der optimierten Grösse belassen, diesen aber auf dem Bildschirmlesegerät mit der benötigten Vergrösserung lesen. Es ist wichtig, ein Hilfsmittel zu haben, das optimal auf die Sehbehinderung des Betroffenen eingestellt ist. Wichtig ist, dass für jede betroffene Person das Hilfsmittel in passender Grösse ausgewählt und dass im Vorfeld abgeklärt wird, welche Funktionen mit dem Hilfsmittel genutzt werden möchten.

Interview

«Wer selbständig durch den Alltag geht, hat wieder mehr Lebensqualität.»

Doris Wahl arbeitet bei der Sehbehindertenhilfe Basel als Fachfrau Rehabilitation. Sie hat sich auf die Themen Informatik und technische Hilfsmittel spezialisiert. Im folgenden Interview erfahren Sie mehr über die Arbeit der Rehabilitation in diesem Bereich.

Doris, Du bist Rehabilitationsfachfrau. Wie erklärst Du Deinen Job einer Freundin?
Wenn ich gefragt werde was ich tue erkläre ich, dass sehbehinderte und blinde Menschen von mir Unterstützung im Umgang mit technischen Hilfsmitteln erhalten. Ich zeige Betroffenen, wie sie ihr iPhone oder iPad, den Computer und die entsprechenden Programme richtig nutzen.

Wie gehst Du an Deine Aufgabe heran, Menschen wieder selbstständiger zu machen und ihnen etwas zu vermitteln, das ihren Alltag vereinfacht?
Jede Situation einer sehbehinderten oder blinden Person ist anders. Grundsätzlich will ich von unseren Klientinnen und Klienten wissen, welche Geräte sie nutzen bzw. nutzen wollen und in welcher Art ich sie dabei unterstützten kann. Ich verschaffe mir zuerst einen Überblick und schaue zu, ob die vorhandenen Hilfsmittel von der betroffenen Person optimal genutzt werden. Falls dies nicht der Fall ist, überlege ich mir, was nötig ist, um den korrekten Umgang mit den Hilfsmitteln zu erarbeiten.
Manchmal hören Klientinnen und Klienten von ihren Angehörigen und Freunden, welche technischen Hilfsmittel es gibt und dass ihnen diese eventuell von Nutzen sein könnten. Doch vorerst muss mit jeder Klientin, jedem Klienten abgeklärt werden, ob und wieviel technisches Wissen vorhanden ist. Dazu nutze ich unsere Testgeräte.

Wie war es bei Sonja Holdener; sie ist ja sehr offen für neue Technologie. Mit 83 Jahren eher ein Glücksfall …
Seit dem Sommer 2016 übe ich mit Frau Holdener am Computer mit Zoomtext (Vergrösserungsprogramm) und Sprachausgabe. So konnte sie weiterhin Geburtstagskarten kreieren, E-Mails schreiben und Haushaltslisten führen. Kurze Zeit später hat sie von Angehörigen ein nicht mehr genutztes iPad erhalten. Damit haben wir die Nutzung der Hörbücherei intensiv erarbeitet. Inzwischen hat sie sich die grösste iPad-Version mit dem Ziel angeschafft, das Gerät als PC-Ersatz zu nutzen. Motorische und kognitive Fähigkeiten sowie Spass und Geduld sind im Alter sehr wichtig, um technische Geräte nutzbringend einsetzen zu können.

Wie können Angehörige eine sehbehinderte ältere Person unterstützen? Im Alltag sind sie ja nicht präsent, aber wo können sie dennoch einen Beitrag leisten?
Angehörige meinen es nur gut, wenn sie Technologien oder Hilfsmittel selber empfehlen. Sie sollten jedoch daran denken, dass die von einer Sehbehinderung betroffene Person nicht mehr gut sieht. Betroffenen ein Gerät zu kaufen oder hinzulegen, ohne es getestet zu haben, birgt Frustration auf beiden Seiten. Darüber hinaus ist es natürlich schön, wenn Angehörige für Betroffene da sind und jene Hilfe leisten, die erwünscht wird.

Was heisst für eine sehbehinderte Person wieder rehabilitiert zu sein - oder anders gefragt, was ist die Essenz, was soll nach einer erfolgreichen Rehabilitation zurückbleiben?
Unser Ziel ist es, dass Betroffene wieder selbstständig jene Tätigkeiten (z. B. E-Mails schreiben, Hörbücher nutzen) durchführen können, die vorher nur mit Unterstützung bewältigt werden konnten. Sie sollten erkennen, dass auch ‹Teilschritte› ein Erfolg sind. Wir möchten zudem der betroffenen Person durch die höhere Selbstständigkeit im Alltag wieder mehr Lebensqualität ermöglichen. Letztlich ist es gut, dass sie wissen, wo sie sich bei Bedarf weitere Unterstützung holen können.
 

Fotos: Michael Fritschi