Einblicke 02/2017

«Meine Blindheit tragen alle mit.»

Portrait

Vera Weber-Bär

Vera Weber-Bär ist Mutter von vier Kindern (10, 8, 6, 3). Mit der Unterstützung ihres Ehemannes organisiert sie deren Alltag, führt den Haushalt und ist da, wenn die Kinder nach Hause kommen. Dazu fungiert sie in der Kirchgemeinde als Präsidentin mit einem 25%-Pensum. Vera Weber-Bär ist stark. Denn all dies meistert sie als blinde Frau.

Das Mami von vier Kindern hatte es in der eigenen Kindheit schwer. Mit dem Grauen Star geboren, durchlebte sie die Schulzeit mit starker Sehbehinderung, geprägt von vielen Augenoperationen. Als im Alter von 9 Jahren noch der Grüne Star dazukam, wurde ihr Weg noch steiniger. Jede darauf folgende Operation war mit der Hoffnung verbunden, dass sich ihre visuelle Situation verbessern würde. 25 Mal wurde diese Hoffnung zerstört. Die Operationen konnten den Verlauf der Augenkrankheiten nicht stoppen. Als 14jährige erblindete Vera Bär.

Beim Pony gut aufgehoben

«Ich konnte damals mit niemandem über meine Augen-Operationen (OP) reden. In der Schule wussten sie einfach, wenn Vera nicht da ist, steht wieder eine OP an. Der Verzicht, nach erfolgten Operationen nicht reiten zu gehen und nicht so leben zu können wie die anderen Kinder, war schwierig für mich.»
Immer musste Vera einen Sonderzug nehmen. Und das Leiden, das dieser Sonderzug mit sich brachte, war gross. Auch Selbstmitleid kam auf – «warum immer ich?».
«Bei meinem Pony fühlte ich mich sehr geborgen. Wir wohnten damals sehr ländlich und betrieben einen bäuerlichen Nebenbetrieb mit Tieren. Wenn ich morgens die Fensterläden öffnete, stand mein Pony schon draussen und wartete auf mich. Tiere sind einfach immer da, wenn man sie braucht.»

«Die Rolle der Mutter und Familienfrau fordert Vera Weber-Bär viel ab.»

Dreh- und Angelpunkt der Familie

Für ihre vier Kinder ist Vera Weber-Bär die Schaltstelle. Doch auch die Kinder übernehmen Verantwortung. «Die Kinder können nicht immer allein Hausaufgaben machen, z. B. rechnen, also rechne ich mit ihnen. Ich kann nicht sehen, sie sehen für mich, lesen mir z. B. einen Elternbrief vor. Sie können nicht kochen, ich koche für uns». Die Blindheit von mir tragen alle mit.
Die Rolle der Mutter und Familienfrau fordert Vera Weber-Bär viel ab. Sie muss sehr organisiert sein, den Kopf immer bei der Sache haben. Da bleibt wenig Zeit um zu entspannen oder loszulassen. Die Familie erfordert mit vier Kindern die volle Aufmerksamkeit.
Amelia, die Dreijährige, hat selbstständig neue Ballone geholt und lässt sie vom Mami aufblasen. Mit einer Mischung aus Intuition, Wahrnehmung und Erfahrung holt die Mutter ein Taschentuch hervor und putzt der Kleinen die Nase – was tatsächlich nötig war.

Der Glaube als Kraftquelle

Einen wichtigen Stellenwert im Leben der Familie nimmt Gott ein. Vera Weber-Bär lernte ihren Mann in der Bibelgruppe des Gymnasiums kennen und lieben. Und ihr Mann ist in seiner Rolle als Haupternährer, feinfühliger Vater und Partner natürlich eine ebenso wichtige Stütze im Leben der Familie wie Vera oder der Glaube. Wieso steht jetzt gerade ein Mensch auf dem Perron im Bahnhof und erklärt mir, welcher Zug gerade einfährt? Da ist Gott mit im Spiel, glaubt Vera Weber-Bär. Im Gebet zu Gott einen Schritt aus dem Alltag herausmachen, Ruhe finden, Bibel lesen, das ist zentral für sie.
 

Gute Vernetzung ist hilfreich

Über die Kirchgemeinde, aber auch über neue Bekanntschaften aus der Schule der Kinder, ist ein recht grosses Netzwerk entstanden. Wenn sie Begleitung benötigt, um einen Termin mit einem Kind in Basel wahrzunehmen, fragt die junge Frau einfach jemanden der vielen hilfsbereiten Bekannten an. Über das Netzwerk ist auch der Kontakt zum Reiten entstanden. Seit anderthalb Jahren geht Vera in Begleitung wieder reiten. Sie nutzt diese Zeit in der Natur und im Kontakt mit diesem wunderbaren Tier, um ihre Batterien wieder aufzuladen und etwas Zeit zu verbringen, die nur ihr allein gehört.
 

Lebenspraktisches und Mobilität

Um ihren Alltag gut zu organisieren, hat sich Vera Weber-Bär im Laufe der Jahre zahlreiche Strategien angeeignet. Von der Aussentüre zur Innentüre verläuft z. B. ein auf dem Holzboden befestigter, gepresster Schlauch. Dies ermöglicht ihr, tastend mit den Füssen den direkten Weg zur nächsten Türe beizubehalten.

Frisch erblindete Menschen, müssen sich von Grund auf neu organisieren und sind sehr froh, wenn ihnen die Sehbehindertenhilfe Basel mit Unterricht in Lebenspraktischen Fähigkeiten (siehe Interview) sowie in Orientierung & Mobilität zur Seite steht. Vera Weber-Bär findet es sehr angenehm, dass sie Marcel Studer, Orientierungs- und Mobilitätslehrer von der Sehbehindertenhilfe anrufen kann, wenn ein neuer Weg trainiert werden soll. Sie hat es versucht, auch mit ihrem Mann ein Mobilitätstraining durchzuführen. Doch gerade die Ruhe und die Erfahrung, die Marcel Studer mitbringt sowie das Zur-Verfügung- Stellen von Zeit, sind unverzichtbar, wenn im hektischen Strassenverkehr eine neue Wegstrecke trainiert werden muss.

Natürlich kommen im Alltag immer wieder Zweifel auf, ob sie einer schwierigen Aufgabe wirklich gewachsen sein wird. Doch eine tiefe Krise, die ihr Fundament erschüttert hätte, gab es nie. Plötzlich kommt Vera Weber-Bär ihre Mutter in den Sinn, die ein sehr optimistischer Mensch sei mit der Gabe, aus dem Nichts ein Resultat hinzuzaubern. Zaubern kann Vera zwar nicht, doch vermutlich hat dieser unerschütterliche Optimismus ihrer Mutter etwas auf die Tochter abgefärbt. Denn sie gestaltet ihr Leben mit all den ihr zugedachten Rollen auch als blinde Frau erfolgreich und mit viel Lebensfreude.

Hintergrund

Grüner Star (Glaukom)

Der Grüne Star kennzeichnet eine Gruppe von Augenerkrankungen, die sehr oft mit erhöhtem Augeninnendruck einhergehen. Einmal entstandene Schäden sind leider nicht rückgängig zu machen. Der frühzeitigen Erkennung eines Glaukoms und dessen konsequenter Behandlung kommt deshalb entscheidende Bedeutung zu. Denn wenn die Krankheit unbehandelt bleibt, kann sie von Gesichtsfeldausfällen bis zur Erblindung führen. Unter Gesichtsfeld versteht man den mit unbewegtem Auge gleichzeitig sichtbaren Teil des Raums.

Um die Ursache zu verstehen, muss kurz auf den Aufbau des Auges eingegangen werden. Dieser ähnelt demjenigen einer Kamera: Die vordere Begrenzung des Auges ist die durchsichtige Hornhaut, dahinter ist die farbige Regenbogenhaut (Iris) zu erkennen.
Hinter dieser liegt die Augenlinse. Sie wird umspült vom Kammerwasser, einer farblosen Flüssigkeit, die ständig neu produziert wird und durch die Pupille in die vordere Augenkammer zwischen Iris und Hornhaut gelangt. Von dort wird sie normalerweise aus dem Auge abgeleitet.

Diese Flüssigkeit ist für den Augeninnendruck verantwortlich. Wenn die Ableitung des Kammerwassers gestört ist, kommt es zu einer schädlichen Erhöhung des Augeninnendrucks. Über den Glaskörper wird der erhöhte Augeninnendruck an den hinteren Augenbereich, die Netzhaut und den Sehnerv weitergegeben. Dadurch können in diesem Bereich die wertvollen Sehnervenfasern geschädigt werden. Es kommt zu einem schleichenden Gesichtsfeldausfall, der von den Betroffenen in vielen Fällen nicht und wenn, dann erst sehr spät bemerkt wird.
 

Ursachen unklar

Bis heute lässt sich nicht genau sagen, warum jemand an Glaukom erkrankt. Sicher ist, dass jede Form des Nikotinkonsums beim Glaukom ein zusätzliches Risiko darstellt, weil Nikotin die Gefässe verengen kann und deshalb die Durchblutung im Sehnerv des Auges verschlechtert. Es ist bekannt, dass die Anlage zum Glaukom erblich sein kann. Wenn einer Ihrer Blutsverwandten betroffen ist, sollten Sie Ihren Augeninnendruck ab Alter 55+ regelmässig vom Augenarzt kontrollieren lassen. Ebenso ist bei Kurz- und Weitsichtigen das Glaukom häufiger und schwerer. Auch bestimmte Medikamente haben Einfluss auf den Augeninnendruck.
Nicht zuletzt kann ein Glaukom auch die Folge einer anderen Erkrankung oder sogar einer Augenverletzung sein.
 

Behandlung des Grünen Stars

Ziel der Behandlung eines Grünen Stars ist nicht wie z. B. beim Grauen Star die Verbesserung der Sehschärfe oder wie bei anderen Augenkrankheiten dessen Heilung, sondern die Kontrolle des Krankheitsgeschehens.
Da wir heute nur beschränkt Zugang zu den zugrundeliegenden Krankheitsprozessen haben, zielt eine Therapie eines Glaukoms zumeist auf die Senkung des Augeninnendrucks. Über diese soll ein Fortschreiten des Sehnervenschadens und möglicher Gesichtsfelddefekte verhindert werden. Schon entstandene Schäden sind nicht rückgängig zu machen; es gibt Fälle, in denen eine Erblindung nicht aufzuhalten ist.

Interview

Zwei Augen von aussen bringen einen neuen Blickwinkel auf die Situation

Wenn sich die Sehkraft derart verringert hat, dass Verrichtungen des Alltags nicht mehr ausgeführt werden können, sind Beratung und Rehabilitation gefragt. Mit guten Tipps, unterstützenden Hilfsmitteln und dem Blickwinkel der Erfahrung, bringt ein Training in Lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF) wieder Licht ins Dunkel und mehr Selbstständigkeit in den Alltag. Im Interview mit Doris Wahl, Rehalehrerin für Lebenspraktische Fähigkeiten erfahren Sie mehr über dieses Gebiet.

Bei sehbehinderten Menschen, die plötzlich mit ihrer Sehbeeinträchtigung nicht mehr zurechtkommen, steht zu Beginn ein offenes Gespräch, bei dem wir ihnen zuhören. Dafür arbeiten bei der Sehbehindertenhilfe ein Psychologe sowie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Wie tauschst Du Dich mit ihnen aus?
Die Sozialarbeiter sind die erste Anlaufstelle für neue Klientinnen und Klienten. Wenn sie den sehbehinderten Menschen zuhören, stellen sie rasch fest, in welchen Lebensbereichen die Betroffenen Hilfe benötigen. Ich tausche mich laufend mit ihnen aus, zudem findet für den Informationsaustausch eine wöchentliche Teamsitzung statt.

Doris, was verstehen wir unter dem Begriff Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF)?
Der Fachbereich ‹Lebenspraktische Fähigkeiten› umfasst alle Verrichtungen im häuslichen Alltag, die morgens beim Aufstehen beginnen und abends mit dem ‹Ins Bett gehen›; wieder enden. Im Pflegebereich würden wir dies ‹Aktivitäten des täglichen Lebens› nennen. Dabei geht es einerseits um eine sichere Umgebung, um eine möglichst reibungslose Kommunikation (Computer, Handy), aber auch um Hygiene sowie die Bereiche Essen und Trinken.

Wenn Du mit Klientinnen und Klienten arbeitest, was steht am Anfang der Zusammenarbeit?
Als erstes überprüfe ich im Gespräch, ob tatsächlich in jenen Bereichen Unterstützung benötigt wird, die im Erstgespräch zur Sprache kamen. Wenn es z. B. um die Handynutzung geht, frage ich zuerst an, um welches Handymodell es geht, damit ich Vorabklärungen machen kann. Geht es ums Kochen, vereinbare ich einen Termin bei den Klientinnen und Klienten zuhause.
 

«Die Förderung von Selbstständigkeit ist sehr wichtig, so wird das Selbstwertgefühl gestärkt.»

Auf was schaust Du vor Ort beim LPF-Training in der Küche?
Ich schaue erstmal, ob die Lichtverhältnisse in der Küche ideal sind. Manchmal steht auch einfach zu wenig Licht zur Verfügung. Dann frage ich, mit welchen Kochplatten die Klientinnen und Klienten arbeiten. Manchmal fürchten sie sich beim Anbraten von Fleisch vor den heissen Ölspritzern, dann rate ich dazu, nur die hinteren Kochplattenzu benutzen. Oder ich rege an, dass auch der Backofen oder eine vorhandene Mikrowelle fürs Kochen eingesetzt werden kann.

Wie steht es um die Markierungspunkte bei den Herdschaltern?
Grundsatz im Training von Lebenspraktischen Fähigkeiten ist, ‹So wenig wie möglich, so viel wie nötig›. Wenn die Klientin oder der Klient realisiert, dass ihre/seine Herdplattenschalter bei jeder Kochstufe ‹Klick›; machen, dann kann er auch die Stufen abzählen und braucht keinen Markierungspunkt. Punkte werden zudem nur bei jenen Herdplatten montiert, die eben fürs Kochen auch verwendet werden.

Welche Hilfsmittel werden besonders häufig eingesetzt?
Die Hilfsmittel werden den Betroffenen zum Selbstkostenpreis weitergegeben, d. h. die Sehbehindertenhilfe hat keine Marge auf den Hilfsmitteln. Grosstastentelefone und Abspielgeräte für Hörbücher sind häufig im Einsatz. Auch sprechende Uhren, Küchen- oder Körperwaagen werden oft verwendet. Klienten, die jedoch ein iPhone nutzen, nutzen eher die automatische Zeitansage. Ein wichtiger Lebensbereich ist ausserdem die Kommunikation mit dem Personal Computer und Endgeräten wie z. B. iPad und iPhone.

Wie wichtig ist es, dass die Selbstständigkeit von Menschen mit Sehbehinderung gestärkt wird?
Die Förderung von Selbstständigkeit ist sehr wichtig, so wird das Selbstwertgefühl gestärkt. Betroffene sollen realisieren, welchen Teil des Alltags sie allein meistern können und wo es Sinn macht, etwas zu delegieren bzw. Fremdhilfe anzunehmen.
Auch hier kann ich nur so viel Unterstützung leisten, wie die Betroffenen bereit sind, sich darauf einzulassen. Wir wollen Betroffene wieder befähigen, den Alltag möglichst allein und mit weniger Fremdhilfe meistern zu können.

Jede Sehbehinderung ist individuell. Jede Klientin, jeder Klient hat eine andere visuelle Realität. Wie trägst Du diesem Aspekt bei der Arbeit Rechnung?
Wichtig ist es für mich, zu wissen, dass ich die Realität der betroffenen Person akzeptieren muss. Um diese in Erfahrung zu bringen, sitze ich den Klientinnen oder den Klienten gegenüber und frage sie, wie sie mich sehen. In zehn Fällen einer altersbedingten Makuladegeneration fällt die Antwort zehnmal anders aus und zehnmal sieht auch die Lösung für die visuelle Situation leicht anders aus.

Gibt es besonders hilfreiche Tipps für Alltagssituationen, in denen die Sehbehinderung plötzlich eine Hürde darstellt?
Das Allerwichtigste ist, Abläufe aus der Erinnerung wieder in die Gegenwart zu holen. Wie habe ich das jeweils gemacht? Zum Beispiel eine Cakeform mit dem vorbereiteten Teig befüllt? Oder Tipps beim Rüebli schälen, dass dort, wo es feucht ist, schon geschält ist, und dort, wo es noch trocken ist, die äusserste Schicht noch dran ist. Zudem zeigen wir auch, dass es besser ist, nicht ganz exakt zu schälen, sondern überlappend.

Doris, Du bringst sehbehinderten Menschen mit einfachen Tipps und gezieltem Training wieder Freude für den Alltag zurück. Was ziehst Du persönlich aus deiner Arbeit?
Für mich ist es schön, wenn Klientinnen und Klienten beim Verabschieden strahlen und realisieren, dass sie nun wieder eine ‹Wegstrecke› alleine gehen können. Auch schätzen sie, dass sie sich bei Bedarf wieder melden dürfen und machen von dieser Möglichkeit auch Gebrauch. Zudem freut es mich, wenn Klientinnen und Klienten uns bei anderen Betroffenen weiterempfehlen, das zeigt, dass unsere Arbeit geschätzt wird.
 

Fotos: Michael Fritschi